Die (sozial-)psychiatrische Ordnung, gesellschaftliche Herrschaft und die Spuren des Wahnsinns
Kritische Einwürfe gegen (sozial-)psychiatrische Zustände nehmen neben den zum Teil offen gewaltförmig organisierten Behandlungsformen nicht selten den vermeintlichen Schubladencharakter psychiatrischer Diagnosen zum Ausgangspunkt weiterer Überlegungen. Mithin geraten auch die Normalitätsanforderungen und Stigmatisierungen, mit denen die Diagnostizierten konfrontiert werden, in den Blick. Folgen wir nun den Spuren des Wahnsinns, lauert hinter der Infragestellung seiner »Verarztung« (Foucault) die Gefahr, über die Fallstricke simplifizierender Etikettierungs- oder Randgruppentheorien zu stolpern. Was also tun? Schließlich stehen wir vor der Herausforderung, Menschen, die im hier und jetzt leiden, Angst haben, Schmerzen verspüren, verunsichert sind, Unterstützung, Begleitung und Zuwendung suchen, Alternativen anzubieten.
Auch wenn die Klage über die Inflation psychiatrischer Diagnosen und die Macht der Pharmaindustrie in weiten Teilen der Gesellschaft Widerhall findet, ist radikale Psychiatriekritik doch etwas aus der Mode gekommen. Der Verweis auf die Ausdifferenzierungen der (sozial-)psychiatrischen Versorgungslandschaft, auf die Einbindung von psychiatriebetroffenen Menschen als Genesungsbegleiter_innen in den Kreis der Professionellen oder auf den geplanten Ausbau des Home Treatment mag deren Veralten vordergründig rechtfertigen.
In diesem Vortrag möchte ich dafür argumentieren, dass nicht viel Grund zur Beruhigung besteht, und dies nicht nur, weil es sich bei der ersten von der US-amerikanischen Gesundheitsbehörde FDA zugelassenen digitalen Pille – einer Pille mit einem eingebauten Sensor zum Zwecke der Kontrolle ihrer Einnahme – um ein Neuroleptikum handelt. Vielmehr leistet die moderne (Sozial-)Psychiatrie einen näher zu beleuchtenden Beitrag zur Aufrechterhaltung gesellschaftlicher Verhältnisse, in und an denen tagtäglich so viele verzweifeln.