Themenstrang: »Einführung«
Referent_in: Hans-Peter Michels
Tag/Zeit: Freitag, 14.9.2018, 10:00–12:00 Uhr
Seit einigen Jahren wird intensiv darüber diskutiert, was »psychische Störungen« sind. Die Position, dass die DSM- bzw. ICD-Kategorien die Grundlage zur Erforschung der Ätiologie psychischen Leidens bilden, wird zunehmend aufgegeben. Über die Ursachen psychischer Störungen wird wieder heftig gestritten. In der biomedizinisch ausgerichteten Psychiatrie werden biologische Variablen als alleinige Ursachen veranschlagt und immense Forschungsgelder für die Suche nach Biomarkern aufgewendet. Auf der Basis der DSM- bzw. ICD-Kategorien konnten auch nach über 30 Jahren der Forschung keinerlei Biomarker gefunden werden. Nunmehr werden alternative Herangehensweisen (die ‚Research Domain Criteria-Initiative des National Institut of Mental Health in den USA – in Europa die »Stratified medicine«- Initiative) entwickelt. Ob auf diesem Wege irgendwann Biomarker für eine valide Differentialdiagnostik ermittelt werden können, wird abzuwarten sein. Einen gänzlich anderen Ansatz vertritt Kenneth Kendler, der den RDoC-Forschungsleitlinien eine Privilegierung der Hirnschaltkreis-Ebene vorwirft. Dies sei zu reduktionistisch. Die Relevanz der Analyseebene sollte nicht a priori festgelegt werden, sondern – nach seinen bisherigen Forschungsergebnissen – könnte sich je nach psychischer Störung, mal für die biologische, mal für kulturelle oder die Verhaltensebene eine Priorität ergeben. Im Vortrag soll die Auswertung solcher Daten zu sozialepidemiologischen Studien präsentiert werden, ob hier Hinweise für soziale Ursachen und Bedingungen von psychischen Störungen zu finden sind. Vor allem sollen solche Befunde berücksichtigt werden, die soziale Ungleichheit und psychische Leiden einbeziehen. Davon ausgehend soll eine kritisch-psychologische Reinterpretation versucht werden.